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Geschlossene Gesellschaft!

Kirche sagt von sich gerne, dass sie offen für alle sei. Tatsächlich ist sie für die meisten Menschen eine geschlossene Gesellschaft. Kirche erreicht heute nur noch einen kleinen Teil ihrer Mitglieder und nur einen Bruchteil der Bevölkerung. Warum? Darum geht es im dritten Teil meiner Serie über die drei großen Krisen der Kirche.

Zwei Sachen können anscheinend in Kirche zu viele Menschen zu gut: 1. Die Augen vor der Realität verschließen. 2. Wenn das auch nicht mehr hilft: Die Realität einfach schön reden.

Denn eigentlich müsste ich schreiben: Es ist nicht so, dass wir in Kirche nicht wüssten, was los ist. Eigentlich. Doch praktisch passiert kaum was. Trotz deutlicher Anzeichen. Ach, was schreibe ich Anzeichen. Es ist viel mehr als das. Aber lies und schau selbst.

Die Zahlen sind nur auf den ersten Blick schön!

Ein Problem von Kirche könnte tatsächlich einfach mangelnde Kompetenz sein. Ein Beispiel. Schon seit 1972 gibt es in der EKD sog. „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen“ (KMU), die in etwa 10-jährigem Abstand durchgeführt werden. Ich habe mir in meiner Abschlussarbeit insbesondere die beiden letzten Untersuchungen angeschaut, von 2002 und 2012. Eine der wichtigsten Ergebnisse jeder KMU ist das sog. „Gefühl der Verbundenheit mit der evangelischen Kirche“, das als prozentualer Anteil an der Gesamtheit aller Kirchenmitglieder dargestellt wird.

Insgesamt fällt auf, dass es nur wenige klare Veränderungen gibt. Auf den ersten Blick ließe sich positiv festhalten, dass das Verhältnis von Nähe bzw. Distanz der Mitglieder zur Kirche in den letzten 40 Jahren auf einem vergleichbaren Niveau geblieben ist. Also: Alles in Ordnung, oder nicht?

Nein. Denn dabei würde vergessen, dass die EKD 1972 rund sechs Millionen mehr Mitglieder als 2012 hatte. Die Professorin für Praktische Theologie aus Kiel, Frau Pohl-Patalong fasst daher aus meiner Sicht treffend zusammen:

„Wenn die Nähe-Distanz-Verhältnisse und auch die Austrittsneigungen trotz der gesunkenen absoluten Zahlen unverändert bleiben, dann bedeutet dies eine Bewegung von stärkerer Verbundenheit zu höherer Distanz unter den Kirchenmitgliedern, so dass fast der gleiche Prozentsatz, der aus der Kirche austritt, an den Rand `nachrutscht´. Offensichtlich ist nicht der Effekt eingetreten […], dass die Ränder bröckeln, der Kern jedoch stabil bleibt, bzw. die Situation sogar als ein `Gesundschrumpfungsprozess´ gedeutet werden konnte“.

Also: Mit Blick auf solche Statistiken kann Kirche sagen, dass alles doch in Ordnung sei. Aber nur, wenn sie die Augen schließt. Oder einfach nicht die Kompetenz hat, ihre eigenen Studien anständig zu lesen.

Kirche verliert nicht nur Mitglieder, sondern die Mitglieder, die noch da sind, verlieren auch beständig an Verbundenheitsgefühl zur Kirche.

Die Entdeckung der Milieuperspektive

Nun kommt es aber erst richtig dicke. Mit der sog. Milieuperspektive kann man nämlich erkennen, dass die Kirche riesige blinde Flecken hat. Eigentlich müsste man eher sagen, dass sie kleine sehende Flecken hat, denn der überwiegende Teil wird ja nicht gesehen. Wie dem auch sei. Worum es geht:

Mit der KMU von 2002 wurde eine Unterscheidung der Kirchenmitglieder nach Lebensstilen eingeführt. Damit ging eine Sensibilisierung für die sog. „Milieuperspektive“ einher. Noch nie gehört? Dann ist der nächste Absatz für dich:

Gesellschaften verschiedener Zeiten, Kulturen und Regionen haben verschiedene Sozialstrukturen. In Deutschland wurde z.B. unterschieden in Stände, Klassen und Schichten. Die aktuelle Gesellschaft ist jedoch nicht mehr nur in vertikale Schichten gegliedert (Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht), sondern hat sich seit den 1950er Jahren in Milieus und Lebensstile ausdifferenziert. Sie unterscheiden sich z. B. durch Alltagsleben, Ausbildung, Beruf, politischen Einstellungen, gemeinsame Werte, Mentalitäten.

In der KMU von 2002 wurden die Mitglieder der EKD in sechs Milieus (bzw. Lebensstiltypen) unterschieden: Die Hochkulturellen, die Bodenständigen, die Mobilen, die Kritischen, die Geselligen, die Zurückgezogenen. Und auch da hat man sich das Verbundenheitsgefühl der Kirchenmitglieder noch einmal genauer angesehen. Und was kam heraus? Es gibt eklatante Unterschiede im Verbundenheitsgefühl, je nachdem aus welchem Milieu die Kirchenmitglieder kommen.

Die Studie hat ergeben, dass drei Dinge die Leute in die Kirche bringen:

  • Traditionsorientierung
  • hohe Bildung
  • Interesse an stabiler, präsenzbezogener Geselligkeit

Du kommst aber eher nicht in die Kirche, wenn du folgende Merkmale aufweisen kannst:

  • Moderne Lebenseinstellung
  • niedriger Bildungsgrad
  • Interesse an flexiblen Formen von Geselligkeit

Das hat zur Folge, dass die Kirche in ihrer bestehenden Form bei den Hochkulturellen und Bodenständigen vergleichsweise viele ihrer Mitglieder erreicht. Die Geselligen und Kritischen kann sie durch Modernisierung an Inhalten und Sozialformen (im geringen Maße) erreichen. Doch für die Zurückgezogenen und Mobilen ist die Kirche einfach nur eine geschlossene Gesellschaft.

Zusammengefasst hat KMU-Studie ergeben, dass mit den momentanen Formen und Angebote der Kirche nur ein Teil der innerkirchlichen Mitglieder angesprochen werden. Für zwei von sechs Milieus macht die Kirche deutlich mehr Angebote als für die anderen. Positiv könnte man hier wieder sagen: Kirche macht eine starke Zielgruppenarbeit. Negativ muss man dann aber auch ehrlich sein: Kirche ist nicht für alle offen.

Und was ist mit den Leuten außerhalb von Kirche?

Ganz genau, das ist der entscheidende Punkt: Bislang haben wir uns, bzw. hat die Kirche sich, nur die Kirchenmitglieder angeguckt. Schon da hat man festgestellt, dass Kirche ein super enges Angebot auffährt und schon lange nicht mehr alle ihre Mitglieder erreicht. Doch… was ist mit all den Menschen, die nicht mal mehr Mitglieder sind?

Antworten auf diese Frage liefert z.B. die Milieustudie des Sinus-Institutes. Meiner Meinung nach ist das Sinus-Institut für die Arbeit der Kirche am aufschlussreichsten. Was machen die Jungs und Mädels am Sinus-Institut also für uns Spannendes?

Kirchenmitglieder sind in allen Milieus

Ganz wichtig zu Beginn: Sie suchen nicht ein „kirchliches“ Milieu, sondern nach Milieus in der Kirche bzw. nach Kirche in den Milieus. Dabei haben sie herausgefunden, dass Kirchenmitglieder in allen Milieus zu finden sind (sie haben aber mehr als sechs, ich glaube es sind aktuell 12). Auch hier könnte Kirche nun wieder sagen: Na, dann? Ist doch alles gut!

Geht so. Zum einen gilt: Das aktive kirchliche Leben (Gottesdienste, regelmäßige Gruppen etc.) wird nur von Mitgliedern aus wenigen Milieus gestaltet/besucht. Zum anderen: Die Kirche erreicht nach den Sinus-Milieus vor allem Menschen in traditionsorientierten Milieus und teilweise in der Bürgerlichen Mitte. Wenige dagegen in den postmodernen und Unterschichtsmilieus.

„Nennenswerter Kontakt der Kirche zur Lebenswelt der Menschen besteht nur für Menschen in 2 ½ von 10 Milieus“

fasst der Theologe Hempelmann die Ergebnisse zusammen.

Daher ist die Kirche in ihrem aktuellen Zustand Milieukirche. Und das gilt vor allem für den (sonntagmorgendlichen) Gottesdienst. Meistens sind sie eine Submilieuveranstaltung für traditionsorientiert-konservative Menschen. Aber ja, Kirche ist natürlich offen für alle…

Die Zukunft sieht düster aus

Verschärft wird die Situation dadurch, dass das Sinus-Institut davon ausgeht, dass die postmodernen Milieus überdurchschnittlich wachsen und die Milieus besonders stark abnehmen, aus denen die Kirche momentan den Großteil ihrer aktiven Mitglieder gewinnt: die traditionell-konservativen. Autsch.

Was ich mir wünsche? Dass wir als Kirche endlich ehrlich mit den Ergebnissen der Milieuperspektive umgehen. Lasst uns eingestehen, dass wir de facto ein milieuverengtes Angebot bieten. Lasst uns eingestehen, dass ein eklatanter Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht.

Wir als Kirche denken, wir wären in der Mitte der Gesellschaft. Pustekuchen. Wir erreichen nur noch einen Bruchteil unserer eigenen Mitglieder. Je jünger und (post)moderner unsere Mitglieder sind, desto weiter weg sind sie von unseren Angeboten.

einfachkirche als Lösung?

Im ersten Teil meiner Serie über die drei Krisen der Kirche hatte ich dir unsere veränderte Gesellschaft erklärt. Wir leben in einer stark pluralisierten und ausdifferenzierten Gesellschaft. Im zweiten Teil hatte ich dir die Entwicklung z.B. der Kirchenmitgliedschaftszahlen und der Gottesdienstbesucher dargestellt. Jetzt im dritten Teil kommt beides zusammen.

Kirche bietet aktuell ein absolut milieuverengtes Angebot an. Wir machen krasse Zielgruppenarbeit. Für eine Zielgruppe, die immer kleiner und kleiner wird.

Und: Wir haben keinen Erfolg mit dieser Taktik. Das ist ja das Schlimmste eigentlich… Selbst mit höchsten Anstrengungen ist es kaum möglich, Milieugrenzen in dem Sinne zu überwinden, dass mit einem Angebot „alle“ erreicht werden. Aber genau das versuchen wir immer und immer.

Und jetzt kommt die Lösung?

Nun ja, zumindest knüpfe ich mit einfachkirche genau da an. Bei dem Versuch einerseits alle Menschen in die Kirche zu bekommen, also offen für alle zu sein und andererseits ein so vielfältiges Angebot zu haben, dass wir als Kirche auch die anderen 7 ½ Milieus erreichen, die wir aktuell einfach so missachten.

Die drei großen Krisen

Aber vorher kommt noch im nächsten Beitrag meine Zusammenfassung. Was sind nun die drei großen Krisen der Kirche? Und was heißt das für die Art und Weise, wie wir Kirche verstehen, leben und gestalten sollten? Ich nehme hier viel Anlauf, und vielleicht ist das für dich gerade weniger spannend, aber es ist so etwas wie die Grundlage/die Basis für einfachkirche. Und bald haben wir es auch schon geschafft und es kann praktisch werden!

 

 

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2 Comments

  1. Du schreibst in einem andern Beitrag, dass Freikirchen immer nur eine Randerscheinung bleiben werden. Zumindest würde ich mal behaupten (das ist meine eigene Beobachtung), dass sie sich aus Mitgliedern aller Milieus zusammensetzen. Außerdem ist meine Beobachtung in meiner eigenen Gemeinde, dass ca. 40 % der Mitglieder in irgendeiner Weise an der Gottesdienstgestaltung teilhaben. Weiter ca. 50 % haben andere Aufgaben in der Gemeinde. Das schafft einen großen Zusammenhalt, gerade weil es dadurch Räume gibt, Gottesdienstgestaltung, Angebotsgestaltung usw. zu diskutieren und zu erneuern. Des weiteren gibt es vor allem Angebote für die Jüngeren und Kinder. Alt werden wir alle von alleine, hörte ich meine Pastorin einmal sagen. Daher weiß ich nicht, ob Deine Prognose über die Freikirchen wirklich stimmt.

    1. juhopma says:

      Liebe Ansa,
      wirklich wissen tue ich das natürlich auch nicht… was mir einfach nur mit Blick auf Freikirchen wichtig ist: Ich halte sie nicht für die Lösung (der Probleme der Landeskirche). Gleichwohl möchte ich die Freikirchen damit nicht abwerten! 🙂

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