Während die Mitgliederzahlen zurückgehen und Ressourcen knapper werden, steht die Kirche vor einer Richtungsentscheidung: Bleibt die Kirchengemeinde unsere Basis – oder wird die Großstruktur zum neuen Normal?
Unterhalb des medialen Radars der meisten Menschen wird gerade deutschlandweit über die Zukunft der evangelischen Landeskirchen nachgedacht, gestritten – und längst auch entschieden. Vieles passiert in Synoden, Ausschüssen, Steuerungsgruppen und Projektpapieren. Für die meisten Kirchenmitglieder bleibt das vage: „Die Kirche macht wohl wieder irgendeine Strukturreform.“
Je länger ich das beobachte, desto deutlicher wird mir: Hinter vielen dieser Prozesse steckt eine Grundfrage, die selten offen ausgesprochen wird, aber fast alles bestimmt:
Bleibt in Zukunft die Kirchengemeinde vor Ort unsere Grundeinheit – oder wird der Kirchenkreis bzw. eine große Region zur eigentlichen „Gemeinde“?
Man kann diese Frage natürlich eleganter verpacken – als „Kooperationsräume“, „Pastoralräume“, „Regionen“, „Großgemeinden“ oder „Profilkirchen“. Aber am Ende läuft es immer wieder darauf hinaus: Welche Ebene ist die Basis – und welche ist die Ergänzung?
Ich möchte das einmal sortieren, ohne jemanden anzugreifen. Es geht mir nicht darum, Leitungen schlechtzureden, sondern darum, ehrlich zu benennen, worum es in all diesen Prozessen tatsächlich geht.
Wie unsere Struktur heute aufgebaut ist
Kirchengemeinde
Das ist die Ebene „vor Ort“: Kirche, Gemeindesaal, Gruppen, Kitas, Stadtteil, Dorf. Menschen leben im gleichen Sozialraum, sehen sich beim Einkaufen, in der Schule, auf dem Spielplatz – und eben auch in Kirche. Diese Ebene lebt von Nähe und Beziehungsdichte.
Kirchenkreis
Mehrere Gemeinden bilden gemeinsam den Kirchenkreis (zumindest heißt das bei uns in der Nordkirche so). Hier sitzen Verwaltung, Personalabteilung, Bau, Fachstellen (z.B. Kirchenmusik, Diakonie, Bildungsarbeit) sowie strategische Planung.
Darüber steht die Landeskirche. Aber für die grundlegende Zukunftsfrage ist vor allem das Verhältnis von Kirchengemeinde und Kirchenkreis relevant.
Die Lage: (Noch) nicht dramatisch, aber absehbar am Limit
Fast alle Landeskirchen stehen vor einer ähnlichen Diagnose:
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Die Mitgliederzahlen werden sich bis 2060 massiv reduzieren.
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Mit ihnen sinken die Kirchensteuereinnahmen langfristig deutlich.
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Unsere Strukturen sind noch immer für eine ganz andere Größe gebaut: viele Gebäude, viele Gremien, viele Zuständigkeiten.
Ich würde die Lage heute so beschreiben:
Noch stabil – aber jedes Jahr etwas angespannter.
Wir wissen, dass wir nicht einfach so weitermachen können. Wir wissen auch, dass alle bisherigen Reformschritte nicht ausreichen. Strukturdebatten sind nötig – und das nicht erst irgendwann, sondern jetzt.
Die Grundsatzentscheidung: Kirchengemeinde oder Großstruktur?
Wenn ich mir die Debatten anschaue, lassen sie sich zugespitzt auf eine Frage reduzieren:
Welche Ebene bleibt die Basisebene – und welche Ebene verändert sich grundlegend?
In Hamburg-Ost steht z.B. die Idee im Raum, langfristig pro Bezirk nur noch eine Gemeinde zu haben. Strukturell wäre das eine Großgemeinde, die dem heutigen Kirchenkreis sehr ähnelt – nur kleiner und direkter.
Mir geht es hierbei nicht ums Bewerten, sondern ums Benennen:
Das ist eine Richtungsentscheidung.
Was die beiden Ebenen eigentlich ausmacht
Kirchengemeinde
lebt von:
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Nähe
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Begegnung
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Verwurzelung
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Beziehungsdichte
-
Sozialraumorientierung
Hier zeigt Kirche konkret Gesicht.
Kirchenkreis / Großstruktur
lebt von:
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Bündelung
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Spezialisierung
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Professionalisierung
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übergreifender Planung
-
effizienter Verwaltung
Hier werden Dinge möglich, die einzelne Gemeinden nicht schaffen.
Die Frage bleibt: Welche Logik soll in Zukunft unsere Grundlogik sein?
A) Was wäre, wenn wir den Kirchenkreis komplett schließen?
(Einmal radikal durchgespielt)
Manche sehnen sich nach „reiner Ortsgemeinde“. Aber was passiert real, wenn wir den Kirchenkreis wirklich abschaffen?
Das fällt dann weg:
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gesamte Verwaltung
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Buchhaltung, Revision, Steuern
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Personalrecht, Dienstgeberfunktion
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Bau- und Immobilienmanagement
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diakonische Werke, Beratungsstellen
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Fachstellen (Musik, Diakonie, Bildung)
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Öffentlichkeitsarbeit, IT, Datenschutz
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politische Vertretung gegenüber Bezirk / Stadt
Was dann geschieht:
Option 1: Radikale Dezentralisierung
Jede Gemeinde müsste alles selbst machen: Haushalt, Personal, Recht, Datenschutz, Bau, IT, Trägerschaften.
→ Das überfordert 80–90% der Gemeinden sofort.
Option 2: Radikale Zentralisierung nach oben
Die Landeskirche übernimmt alles.
→ Die Entscheidungen wandern noch weiter weg von den Menschen.
Option 3: Gemeinden gründen neue Verbände
→ Es entsteht ein neuer Kirchenkreis – nur ungeordneter und instabiler.
Kurz:
Kirchenkreis abschaffen führt entweder zu Chaos – oder zu einem neuen Kirchenkreis in anderer Form.
B) Was wäre, wenn wir die Kirchengemeinde komplett schließen?
(Auch das radikal gedacht)
Großgemeinden sind im Trend: eine Körperschaft, mehrere Standorte, ein Leitungsgremium.
Was passiert in diesem Modell?
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hohe Effizienz
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professionelle Verwaltung
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zentrale PR, Musik, Diakonie
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klare Prioritäten
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starke Zentren mit Profilen
Aber gleichzeitig:
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Verlust von Nähe und Identität
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weniger Beziehungsdichte
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geringe Verwurzelung im Stadtteil
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Kirche wirkt mehr als Organisation denn als Gemeinschaft
Kurz:
Großstrukturen funktionieren organisatorisch – aber sie können Orte von Beziehung kaum ersetzen.
C) Die notwendige Mischform – aber mit klarer Basisebene
Wenn man A und B ehrlich durchdenkt, wird klar:
Keine Ebene kann ganz verschwinden – aber beide können nicht bleiben, wie sie sind.
Die entscheidende Frage lautet deshalb nicht:
„Schaffen wir die Kirchengemeinde ab – oder den Kirchenkreis?“
Sondern:
Welche Ebene wird die Basisebene – und wofür ist die andere Ebene dann da?
Und „da sein“ heißt nicht „so weitermachen“.
Es heißt: radikal neu definiert.
Wenn die Kirchengemeinde die Basisebene bleibt
Dann braucht es einen Kirchenkreis, der sich von einer mitgestaltenden Ebene zu einer konsequent dienenden Struktur entwickelt.
Das hieße:
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weniger Steuerung
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weniger Vorgaben
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weniger strategische Rahmung
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und keine eigene inhaltliche Arbeit mehr
Der Kirchenkreis hätte dann keine eigenen Funktionsstellen mit eigenen Programmen, sondern wäre das Backend: Verwaltung, Personal, Bau, Recht, IT, Fachberatung – all das, was einzelne Gemeinden allein nicht tragen können.
Die inhaltlichen Entscheidungen entstünden vollständig vor Ort.
Der Kirchenkreis schafft die Rahmenbedingungen.
Das wäre eine deutliche Veränderung der mittleren Ebene –
weg von Gestaltung, hin zu reiner Ermöglichung.
Wenn der Kirchenkreis die Basisebene wird
Dann braucht auch die lokale Ebene ein neues Selbstverständnis.
Die bisherigen Kirchengemeinden wären dann nicht mehr eigenständige Körperschaften, sondern Orte gelebter Nähe: Präsenzpunkte im Sozialraum, an denen Beziehung, Alltag, Begegnung und Spiritualität konkret werden.
Standorte funktionieren dann wie Campus-Orte einer größeren Organisation:
mit lokaler Präsenz und Engagement, aber ohne eigene Steuerungshoheit.
Strategische Entscheidungen – Profile, Ressourcen, Schwerpunkte –
werden auf regionaler Ebene gesetzt.
Die lokale Ebene setzt um, begleitet, trägt Beziehung.
Das wäre eine deutliche Veränderung der lokalen Ebene –
weg von Selbstständigkeit, hin zu Verortung innerhalb eines gemeinsamen Gesamtkonzepts.
Was C bedeutet
Beides ist C – aber in beiden Fällen bedeutet es:
Eine Ebene wird in ihrer bisherigen Form abgeschafft – nicht institutionell, aber funktional.
Konkret heißt das:
eine Ebene als Kern –
eine Ebene als Dienst.
Solange diese Rollen nicht klar sind, bleiben wir in einer Spannung, die seit Jahren Kraft kostet:
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zu groß, um nah zu sein
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zu klein, um professionell zu sein
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zu unklar, um wirklich lebendig zu werden
Struktur ist nur Form – der Inhalt ist die eigentliche Frage
Struktur entscheidet nicht darüber, ob wir Kirche sind.
Sie entscheidet darüber, wie gut wir unseren Auftrag leben können.
Deshalb gehört zur Strukturfrage immer auch:
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Was ist unser Auftrag heute?
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Wie sind wir für Menschen da, die mit Kirche kaum Kontakt haben?
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Wie reden wir glaubwürdig von Gott in einer säkularen Gesellschaft?
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Wie leben wir Gemeinschaft, Diakonie und Hoffnung konkret in unserem Viertel?
Eine bessere Struktur ohne Inhalt bringt uns nicht weiter.
Ein lebendiger Inhalt ohne passende Struktur wird ausgebremst.
Beides gehört zusammen.
Und jetzt?
Ich habe keine einfache Antwort wie: „Dieses Modell ist das einzig Richtige.“
Dafür sind die Kontexte zu verschieden.
Aber ich möchte eine Grundfrage stellen – als ernst gemeinte Einladung zum Nachdenken:
Wenn wir heute in unserem Stadtteil oder Dorf komplett neu anfangen würden – was wäre unsere Basiseinheit?
Eine überschaubare Kirchengemeinde?
Oder eine große Region mit mehreren Standorten?
Stell dir vor, wir würden bei null starten:
Kein Kirchenkreis, keine Gemeindegrenzen, keine Traditionen.
Nur diese Frage:
Was dient unserem Auftrag heute am besten?
Da ich sowohl in einem Büro in der Kirchengemeinde als auch in der Verwaltung der Diakonie gearbeitet habe, kann ich nur warnen, die Kirchengemeinden zu bündeln.
Dann zerbröselt die Basis und das Vertrauen der Gemeindemitglieder und der Kirchenkreis hat nichts mehr zum Verwalten. Verschlankt werden muss oben, wo sich Beamte tummeln, können und müssen auch Abstriche gemacht werden. Sonst bricht unten so viel weg, dass oben nichts mehr zum Verwalten da ist. Einiges hat doch schon – unten – stattgefunden. Z. B. Küster gibt es viel weniger, die KZVK hat die Renten reduziert, weil „das Geld der Einzahlenden“ nicht mehr für alle reichte. Die Diakonissen sind auch kaum noch präsent für Katechumenenunterricht, Kindergottesdienst und Gespräche. In meiner Kirchengemeinde gab es sogar noch einen Presbyter, der die Buchhaltung übernahm, weil er in diesem Beruf arbeitete. Es gab sogar einen Gymnasialschüler, der die Orgel ehrenamtlich spielte, beim Schulgottesdienst und wenn es sonst erforderlich war. Dieser wurde Pfarrer und ist inzwischen in Rente – nebenbei bemerkt.
Vielleicht gibt’s ja demnächst auch wieder Wehrdienstverweigerer oder ein soziales Jahr für alle Jugendlichen. Das könnte helfen, ein paar Lücken zu füllen. Die Synodaldienststellen sollten doch ein Sparpotential haben, weil Computer und Internet eingesetzt werden. Man könnte auch mal über die Zusammenlegung von Synodaldienststellen und deren Aufgabenbereiche nachdenken ! Da geht es, aber nicht in der Kirchengemeinde, die KI kann das direkte Gespräch nicht übernehmen, wenn der Ansprechpartner und seine Ressourcen wegrationalisiert werden.